Wie viel Zeit braucht ein Trainer, um seine Ideen zu vermitteln? Wie lange dauert es, bis aus einem guten Team ein Weltklasseteam wird?
Es ist fast auf den Tag einen Monat her, dass Thomas Tuchel als neuer Chelsea-Coach vorgestellt wurde. Acht Pflichtspiele liegen hinter ihm. Sechs hat er gewonnen, keines verloren, zwei Tore kassierte das Team dabei. Das Duell mit Atlético Madrid im Achtelfinal-Hinspiel der Champions League war der bislang größte Härtetest für Tuchels Chelsea. Es gewann. Olivier Giroud erzielte einen spektakulären Siegtreffer, die Londoner ließen dabei keinen einzigen Schuss aufs Tor zu.
Auf der Pressekonferenz nach dem Spiel machte Tuchel einen gelösten Eindruck. Er scherzte, er lachte, er sagte, er sei »super happy« für seine Mannschaft. Zur Verabschiedung gabs einen Fistbump mit der Übersetzerin.
Es läuft für Tuchel.
Weltklasse, davon ist sein Team derzeit trotz der erstaunlichen Fortschritte der vergangenen Wochen noch weit entfernt. Der Kader der Londoner ist eigentlich nicht dafür gemacht, schon jetzt große Titel zu gewinnen. Zu viele Offensivspieler sind nicht weit genug in ihrer Entwicklung, Mason Mount etwa, 22, Kai Havertz, 21. Der jüngste von ihnen ist Callum Hudson-Odoi.
Der 20-Jährige gilt als eines der größten Offensivtalente des englischen Fußballs. Der FC Bayern hatte einst öffentlich um ihn geworben, man sei sich damals mit dem Spieler einig gewesen, hieß es. Dann verletzte er sich schwer.
Unter Tuchels Vorgänger Frank Lampard kam Hudson-Odoi in der laufenden Premier-League-Saison auf bloß drei Startelfeinsätze. Tuchel aber machte ihn zum Stammspieler, er teilte ihm eine ungewöhnliche Rolle zu.
In Tuchels 3-2-4-1-System übernimmt Hudson-Odoi meist die Rolle als Rechtsaußen. Oft ist er dort Endpunkt längerer Ballstafetten. Das Team spielt den Ball nach links, lockte den Gegner, um dann schnell auf die andere Seite zu Hudson-Odoi zu verlagern, der seine Stärke im Eins-gegen-eins ausspielen soll. In der Theorie klingt das gut, in der Praxis hapert es mitunter.
Am vergangenen Samstag kam es zu einem Vorfall, der in England hohe Wellen schlug. In einem Ligaspiel brachte Tuchel Hudson-Odoi zur zweiten Hälfte, in der 76. Minute wechselte er ihn wieder aus. Hinterher kritisierte er den Spieler scharf. Nicht, weil dieser kein Tor erzielt hatte, sondern weil er nicht aggressiv genug gewesen sei, wenn das Team den Ball verloren hatte.
Das zeigt, welche Prioritäten Tuchel in seinen Anfangswochen beim FC Chelsea setzt. Wenn man so will, musste Hudson-Odoi herhalten, damit der Trainer seine Botschaft an die Mannschaft sendete.
Haltet den Ball. Wenn ihr ihn verliert, setzt nach. Wer abschaltet, verliert: das Spiel und seinen Platz in der Elf.
Gegen Atlético stand Hudson-Odoi in der Startelf, nach 80 Minuten wurde er ausgewechselt. Diesmal ganz ohne Groll. Wohl wegen Szenen wie der nach rund einer halben Stunde, als Chelsea einmal mehr über Hudson-Odois Seite angegriffen, aber den Ball verloren hatte. Alle Spannung entwich aus Hudson-Odois Körper, dann schien es ihn zu durchfahren, denn plötzlich rannte er los in Richtung seines Gegenspielers und spitzelte ihm den Ball vom Fuß.
Weder ein Schuss aufs Tor glückte ihm noch eine Vorlage zu einer Chance. Aber auch der Gegner blieb harmlos. Im Moment scheint das noch die Hauptsache zu sein.
Bei Paris Saint-Germain und davor in Dortmund hatte Tuchel Teams trainiert, deren Offensive kaum zu verteidigen war. Bei Chelsea kann davon keine Rede sein, davon zeugen die zehn Treffer in acht Partien. Selbst gegen Außenseiter tut sich das Team nicht leicht, Torchancen zu kreieren. Gegen Atléticos Abwehr, eine der weltbesten, gelang das fast gar nicht.
Was sich aber unter Tuchel massiv verbessert hat, ist das Gegenpressing, also das Nachsetzen nach Ballverlusten. Und die Struktur in Ballbesitz. Beides hängt zusammen und führt dazu, dass die an Offensivtalenten reiche Chelsea-Mannschaft zwar wenige Tore schießt, aber noch viel weniger kassiert. Das ist Tuchels Basis.
»Wir dürfen nicht zufrieden werden«
Am Dienstagabend ergab sich damit eine besondere Konstellation. Atlético hat in der Abwehr Überzahl, Chelsea im Spielaufbau. Die einen verteidigen wunderbar ohne Ball, die anderen nicht minder erfolgreich mit ihm.
Eine Pattsituation, die wohl zu einem 0:0 geführt hätte, wenn nicht eines der beiden Teams gezuckt hätte. Chelseas Profis hätten etwa den Glauben ans tuchelsche Balllaufenlassen verlieren können, weil es lange nicht zum gewünschten Ergebnis führte. Plötzlich dribbelt dann einer, der absichern soll, vorwärts, und rums, Atlético kontert, trifft, gewinnt.
Aber Chelseas Mannschaft zuckte nicht. Sie ließ den Ball laufen. »Wir mussten akzeptieren, dass es sehr schwierig sein würde, Chancen zu kreieren«, sagte Tuchel nach dem Spiel. Es war ein Lob für die Geduld seiner Spieler, die auch bedeutete, dass sie an ihn, Tuchel, und seine Ideen glaubten. Der 47-Jährige hat sie überzeugt von seinem Stil, die Mannschaft scheint ihm zu folgen. Das ist zwar oft so bei neuen Trainern. Wie schnell Chelseas Profis Tuchels Ansätze angenommen zu haben scheinen, ist aber ein gutes Zeichen für den Coach.
Noch aber ist Chelsea in der Champions League nicht weitergekommen. Das Rückspiel steht am 17. März an, in London. Bis dahin warten schwere Gegner: Manchester United, Liverpool, Everton, Leeds. »Wir dürfen nicht zufrieden werden«, sagte Tuchel. »Wir dürfen uns nicht ausruhen. Diese Spiele werden uns an unsere Grenzen führen.«
Wo diese Grenzen liegen, das ist die eigentliche Frage.
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