Der neue Schüler aus leicht prekären Verhältnissen, der sich seinen Platz unter den prassfrohen rich kids erst errangeln muss – check. Die Verknallungsszene im Schulflur, bei der jemand in Zeitlupe von einer Wasserspender-Fontäne trinkt – check. Der nervige Vater, der sich seinen Kindern gegenüber betont kumpelig gibt und den alle Zuschauer hassen – check.
Die Bingokarte mit gängigen High-School-Serien-Topoi bestempelt sich schon in den ersten Folgen der Disney+-Serie »Love, Victor« wie von selbst.
Victor landet also nach dem Familienumzug an einer neuen Schule und weiß noch nicht genau, wie er das finden soll. Praktischerweise wohnt sein neuer Sidekick, der Harry-Styles-haft vergrinste Felix, gleich nebenan, und der beneidet Victor gar um seine Chance, an der neuen Schule neu anfangen zu können.
Quasi als leere Leinwand, während alle anderen in ihre stereotypisierte Rollen fixiert seien. »Unser aller Schicksal wurde schon vor Jahren bestimmt«, ächzt Felix, und da hofft man noch, in eine dieser schlauen Serienvarianten geraten zu sein, die sich ihrer eigenen Genrehaftigkeit zwar bereitwillig ergibt, sie aber zumindest gelegentlich auf einer metamäßigen Zweitebene in die Seite stubst.
Und man hofft auf ein bisschen raue Wut zwischen all den vanilligen Storylines – schließlich schreibt Victor gleich zu Beginn eine Instagram-Nachricht an den ihm persönlich unbekannten Simon, die er mit einem patzigen »Screw you«, einem »Leck mich doch« beendet.
»Love, Victor« ist ein Serien-Spinoff von »Love, Simon«, der Coming-out-Dramedy von 2018. Einen der größten Kritikpunkte an dieser Verfilmung des Buchs »Nur drei Worte« von Becky Albertalli nimmt nun Victor direkt zu Beginn der ersten Serienfolge auf: Zu weiß, zu privilegiert, zu glatt lief die Geschichte für Simon bis zur finalen Jungs-Knutscherei im Riesenrad.
Nicht jeder habe derart liberale, verständnisvolle Eltern und hilfreiche Freunde wie er, bemerkt dagegen Victor, der sich davor fürchtet, mit seinen Puerto-Rico-stämmigen, konservativen Eltern über seine momentane Unsicherheit zu sprechen, ob er sich nun ausschließlich von Jungs oder vielleicht auch von Mädchen angezogen fühlt: »Für manche von uns ist das nicht so leicht.«
Im Verlauf der zehn 30-minütigen Folgen entwickelt sich Simon, der dieselbe Schule besuchte wie nun Victor, aber inzwischen nach New York gezogen ist, zu einer Art digitalem Tutor. Es sei für ihn trotzdem die gruseligste Sache überhaupt gewesen, herauszufinden, wer er wirklich sei, verteidigt Simon seine vergleichsweise soften Erfahrungen.
Aber auch Victor wird in der Folge so übel nicht mitgespielt: Das obligatorische homophobe Umkleide-Geätze der Sportcracks fällt vergleichsweise harmlos aus, und es gibt einen offen schwulen Schüler, der im Alltag mit seinen Mitschülern keine größeren Probleme zu haben scheint.
Für junge Menschen, die tatsächlich beleidigt und diskriminiert werden, dürfte dies wie eine schmunzelige Utopie wirken und, was die äußeren Kämpfe abseits der inneren Gefühlsstrudel angeht, nicht wirklich ein Identifikationsangebot sein. Optimistisch gesehen könnte man die Botschaft der Serie an eine andere Zielgruppe gerichtet verstehen.
Nämlich als »Schaut her, alles ganz normal« für unsichere Eltern oder Mitschüler queerer Kinder. Der Verdienst von »Love, Simon« lag schließlich auch vor allem darin, eine schwule Liebesgeschichte ohne weitere Umstände ganz selbstverständlich mit demselben Schmelz samt Kitschkirsche zu überziehen, wie man es auch nach dem gewohnteren Boy-Meets-Girl-Muster getan hätte.
Damit passt »Love, Victor« gut in das eher klassisch ausgelegte Serienraster des neuen Disney-Zweigs Star, der gemeinsam mit der Serie unter dem Disney+-Banner startet. Der Konzern möchte damit ein Publikum jenseits von Familien mit Kindern locken. Folgerichtig sind hier Serien wie »Grey's Anatomy« und »Akte X« verfügbar.
Auf Serienlänge ist die Idee von »Love, Victor« leicht zu verbingen. Auch wenn die Serie ursprünglich für Disney+ direkt produziert werden sollte und in den USA in den ebenfalls mit Inhalten für junge Erwachsene ausgestatteten Streamingdienst Hulu verschoben wurde – anscheinend aus Sorge, die Thematik könne das Disney-Publikum verschrecken. Dabei retten nur die immer wieder hübschen Dialoge die Serie davor, sich allzu vorhersehbar in den dramaturgischen und stilistischen Genregrenzen zu bewegen.
Und die Macher streuen dabei immer wieder zeitgenössische Marker ein, die die Serie später einmal leicht datierbar machen werden. Als Victor sich nicht sicher ist, ob er nicht vielleicht doch gerade dabei ist, sich unerwartet in das Mädchen Mia zu verlieben, vergleicht er diese Erfahrung mit dem Geschmackserlebnis eines prominenten veganen Burgers, von dem er vorher nie gedacht hätte, dass er tatsächlich schmecken könnte.
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